Einführung
in den Dispensationalismus
Der Dispensationalismus ist die auf John Nelson Darby (1800-1882)
zurückgehende Lehre, dass die Heilsgeschichte in mehrere Heilszeitalter
(Dispensationen) zu unterteilen sei. Das heilsgeschichtliche Gliedern der Schrift
ist sicherlich eine hilfreiche Sache, allerdings lehrt der Dispensationalismus
außer dieser Unterteilung noch einiges mehr, was auf dieser Webseite im
Einzelnen erläutert wird, z.B. eine künftige Wiederherstellung des
jüdischen Systems samt Tempeldienst und Tieropfern. Da der
Dispensationalismus das theologische System der Brüdergemeinden und vieler
anderer Freikirchen ist (ohne dass die meisten Mitglieder dieser Gemeinden
dieses Fremdwort überhaupt kennen), ist er unter den bibeltreuen Christen
in Deutschland sehr verbreitet. Viele sind Dispensationalisten, ohne es zu
wissen.
Es gibt unterschiedliche Spielarten und abgeschwächte Formen des
Dispensationalismus, die nicht alle das vertreten, was hier als
dispensationalistische Lehre dargestellt wird. So lehrten Darby und die
„klassischen Dispensationalisten“ z.B., der neue Bund gelte
ausschließlich dem nationalen Israel, gemäßigtere
Dispensationalisten erkennen hingegen an, dass der neue Bund uns Christen der
Jetztzeit gilt. Dargestellt ist hier der traditionelle Dispensationalismus, der
von Darby eingeführt, von seinem Schüler William Kelly systematisiert
und später vor allem durch C. I. Scofield (durch seine Scofield-Bibel),
Lewis S. Chafer, John F. Walwoord, Charles C. Ryrie, Arnold Fruchtenbaum und
W.J. Ouweneel u.a. verbreitet wurde. Auch die bekannten und beeindruckenden
Heilszeiten-Schaubilder von Clarence Larkin (deutsche Entsprechung:
„Bibelpanorama“) haben stark zur Verbreitung des
Dispensationalismus beigetragen.
Hier ein Überblick über die Entwicklung verschiedener
Dispensationalismus-Schulen:
Darby-Dispensationalismus Darby, Kelly u.a. |
Klassischer Dispensationalismus (ab ca. 1880) Scofield, Moody, Larkin u.a. |
Revidierter Dispensationalismus (benannt nach der Revision der Scofield-Bibel, ab ca. 1960) Walvoord, Pentecost, Ryrie, Fruchtenbaum u.a. |
Progressiver Dispensationalismus (benannt
nach dem biblischen Prinzip der progressiven Offenbarung, ab ca. 1980) Block, Blaising u.a. |
Ein ewiger himmlisch-irdisch-Dualismus bestimmt die gesamte
Theologie, was in einer ewigen Dichotomie zwischen Israel und der Gemeinde
resultiert. |
Der ewige Dualismus wird verworfen. Es bleibt die ewige Dichotomie
zwischen Israel und Gemeinde, die die ganze Theologie bestimmt. Daraus
resultiert ein himmlisch-irdisch-Dualismus nur in der Ekklesiologie und
Eschatologie. |
Der Dualismus wird vollends verworfen, was zu einer zeitlichen Dichotomie zwischen
Israel und Gemeinde führt (d.h. sie sind nicht ewig getrennt). Dies
bestimmt nur die Ekklesiologie und Eschatologie. |
Die Dichotomie zwischen Israel und Gemeinde (zwei getrennte
Völker Gottes) wird verworfen zugunsten einer bloßen Unterscheidung zwischen Israel und
Gemeinde (zwei Phasen in dem einen göttlichen Heilsplan). |
Übersetzt aus: Ronald M. Henzel: Darby, Dualism and the Decline
of Dispensationalism, S. 158
Diese Informationen habe ich zusammengestellt, weil etliche
Gerüchte, Missverständnisse und Fehlinformationen im Umlauf sind
über solche, die den Dispensationalismus ablehnen. Sicher gibt es unter
den vielen Nicht-Dispensationalisten auch solche, die nicht bibeltreu sind,
denn schließlich vertreten
auch Bibelkritiker und liberale Theologen, aber auch irdisch
eingestellte Rekonstruktionisten („Reich Gottes jetzt“) dieses
Lehrsystem nicht. Es zeugt aber von fehlendem Unterscheidungsvermögen und
wenig Kenntnis, wenn man alle Nicht-Dispensationalisten in einen
„bibelkritischen Topf“ wirft oder ihnen eine irdische Gesinnung
vorwirft. Der Dispensationalismus kann nicht in Anspruch nehmen, die einzig
mögliche bibeltreue und geistlich gesinnte Denkweise zu sein. Eine solche
verengte Sicht ignoriert Jahrhunderte erwecklicher Kirchengeschichte (z.B.
zwischen Reformation und Darbysmus) und verkennt herausragende Männer
Gottes wie C.H. Spurgeon, Matthew Henry, John Bunyan, John Newton, William
Carey, George Whitefield, Jonathan Edwards, B.B. Warfield, Martyn Lloyd-Jones,
John Piper und unzählige andere, die keine Dispensationalisten, aber von Grund
auf bibeltreu und geistlich eingestellt waren.
Darüber hinaus möchte ich deutlich machen, dass der
Dispensationalimus sogar eine von Grund auf falsche Herangehensweise an die
Bibel ist und zu einem falschen Verständnis von Gottes Heilsplan
führt. Ich möchte ihn nicht als „Irrlehre“ bezeichnen,
aber als falsche und ungesunde Lehre. Doch betone ich, dass ich Christen, die
den Dispensationalismus vertreten oder an solche Lehren glauben, weiterhin sehr
schätze, liebe und in Gemeinschaft und Dienst – so weit möglich
– mit ihnen verbunden sein und bleiben möchte.
Ich selbst habe nach meiner Bekehrung mit 24 Jahren (1993) etliche
Jahre überzeugt an den Dispensationalismus geglaubt. Doch immer wieder
„stolperte“ ich über Schriftstellen wie Eph 2,14ff (die abgebrochene
„Zwischenwand der Umzäunung“); Gal 3,29 (alle Gläubigen
sind in Christus wahre Kinder Abrahams); Röm 9-11 (das wahre Israel ist
nicht gleich dem natürlichen Israel), dem Studium des Hebräerbriefes
(Abschaffung aller Tieropfer) und der Beobachtung keines radikalen Bruchs
zwischen Israel und Gemeinde im Neuen Testament – wie es der
Dispensationalismus lehrt -, sondern einer gewissen Kontinuität. Zwar
kannte ich fast nur dispensationalistisch denkende Christen, doch immer wieder
hörte ich von solchen, die sich vom Dispensationalismus abgewendet hatten.
Auch fragte ich mich, ob nicht die Bündnisse in der Bibel die besseren
Eckpfeiler zum Unterteilen der Schrift wären als die konstruierten
„Haushaltungen“ der Dispensationalisten.
Und die Lehre von der Gnadenwahl und Souveränität Gottes
machte mich nachdenklich, ob die Zeit der Gemeinde wirklich nur ein
„Einschub“ oder „Nebengleis“ oder gar
„Unfall“ in Gottes Heilsplan war – denn diesen Eindruck vermittelt
der Dispensationalismus mit seiner Lehre, der Herr Jesus habe Israel „das
Reich angeboten“, aber das Evangelium für die ganze Welt und die
Zeit der Gemeinde gab es dann nur, weil die Israeliten nicht so reagierten, wie
sie es eigentlich hätten tun sollen. Ich frage mich: War das im NT
gelehrte weltweite Heil nicht von Anfang an Gottes souveräner Plan, seine
Erwählten zu einem vereinten Volk, zu einer einzigen „Herde“
zu sammeln (Joh 10)? Ist wirklich das nationale Israel das Zentrum der
Heilsgeschichte und die Jetztzeit nur eine „Pause“, oder ist Christus
dieses Zentrum und die jetzige Zeit der weltweiten Evangeliumsverbreitung die
Endphase der Heilsgeschichte? Nach 1Kor 10,11 ist schließlich
„über uns das Ende der Zeitalter gekommen“ (vgl. Hebr 1,2; Jak
5,3 u.a.).
In dem Buch „Das Tausendjährige Reich - vier
Standpunkte“ (leider vergriffen) lernte ich eine Sichtweise kennen
(„historischer Prämillenialismus“), die zwar ein
buchstäbliches tausendjähriges Reich erwartet, jedoch ohne
Unterscheidung zwischen Gläubigen aus Israel und den Nationen. Dies war
für mich zunächst die naheliegendste Alternative zum
Dispensationalismus.
Schließlich wurde ich von Christen in einem Hauskreis
herausgefordert, bestimmte eschatologische Lehren des Dispensationalismus wie
die „Vorentrückungslehre“ mit der Schrift zu belegen. Dabei
musste ich feststellen, dass dies mit gesunder Schriftauslegung nach dem
Maßstab „allein die Schrift“ nicht möglich war. Dieses
Nur-bei-der-Bibel-Bleiben war dann auch das Prinzip, was es mir nach und nach
unmöglich machte, an etlichen dispensationalistischen Sonderlehren weiter
festzuhalten.
Ironischerweise ist es aber gerade der Vorwurf einer falschen
Hermeneutik (Herangehensweise an die Schrift), weswegen mich mittlerweile
etliche Mitchristen als abgeirrt verurteilt und abgelehnt haben. Deshalb möchte
ich vorab betonen, dass ich natürlich an die vollständige
Inspiration, Autorität, Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Schrift
glaube, wie sie z.B. in der Chicago-Erklärung beschrieben ist. Ferner ist
mir sehr wichtig, an die Bibel nicht mit einer menschlichen Hermeneutik
heranzugehen, sondern die Bibel mit der Bibel selbst auszulegen. Keine
menschlichen Bedingungen und Lehrsysteme dürfen zur höchsten
Autorität der Schriftauslegung gemacht werden. Wir müssen über
Schriftauslegung das lehren, was die Schrift selbst über Schriftauslegung
lehrt – und nichts anderes. Ich nenne das
„Sola-Scriptura-Hermeneutik“. Sola Scriptura – allein die
Schrift – war eine Maxime der Reformatoren, zu der ich mich voll und ganz
bekenne. Und auf der Grundlage „Allein die Schrift“ möchte ich
herausfordern, über die Wahrheit oder Unwahrheit des Dispensationalismus
nachzudenken.
Hans-Werner Deppe